
Basketball ist ein schnelllebiges Geschäft. Selten sieht man in den Hallen der Republik Jerseys mit Namen der aktuellen Spielzeit – oft dadurch bedingt, dass der neue Favorit schon innerhalb der Lieferzeit für die Beflockung seine Unterschrift beim nächsten Verein geleistet haben könnte. Zugegeben – ganz so krass ist es vielleicht nicht. Dennoch werden in einem Sport, der seine Budgets jährlich neu verhandeln und oft bis auf den letzten Euro ausreizen muss, selten mehrjährige Kontrakte geschlossen. Zwei Jahre sind schon gut, drei gleichen schon fast einem Rentenvertrag. Nun gewährt man diese besondere Vertragskonstellation einem Spieler, der in der letzten Spielzeit in vier Partien insgesamt 13 Minuten eingesetzt wurde, dabei einen Rebound und doppelt so viele Turnover wie erfolgreiche Feldwürfe produziert hat. Was zunächst ziemlich schalkig klingt, löste in Mittelhessen in diesen Tagen eine mittelgroße Sympathiewelle aus. Diesem Kuriosum wollen wir auf den Grund gehen.
Wir müssen schon früh im Artikel einräumen, dass wir etwas harsch mit unserem Youngster umgegangen sind. Natürlich sind die eingangs genannten Zahlen in der Debütsaison von Kai Müsse nebensächlich. Mit 2,05m bringt der inzwischen 19-jährige eine solide Grundlage mit, um die Bretter der Pro A unsicher zu machen. Wer den Sport kennt, der weiß, dass jeder Zentimeter – vor allem bei deutschen Spielern – teures Geld auf dem Transfermarkt kostet. Sein Coach attestiert dem Neuling zudem eine gute Arbeitseinstellung und einen nicht zu unterschätzenden Wurf. Dass er “schon in jungen Jahren den Körper eines Mannes” mitbringt, hat der serbische Übungsleiter in den vergangenen Wochen und Monaten nicht nur einmal erwähnt. Seine “Antrittsrede” im offiziellen Pressebericht (“ich will mich einfach verbessern, damit der Trainer mich guten Gewissens einsetzen kann”) wirkt erfrischend minimalistisch, gar schüchtern; und dass in einer Ära, in der kaum noch Spieler ohne anschließenden “Staredown” dunken und das Highlighttape vielen wichtiger ist als die Teamdienlichkeit des eigenen Spielstils.
Zugegeben: Wir wissen noch nicht viel über Kai Müsse. Vorschusslorbeeren erscheinen auf keinem Scoreboard und auch er wird sich auf dem knallharten Parkett des Leistungssports beweisen müssen, wenn in absehbarer Zeit sein Welpenschutz abläuft.

Foto: Thore Bischoff
Was wir aber ausdrücklich loben wollen, ist die Perspektive und langfristige Denkweise der sportlichen Leitung in dieser Personalie.
Alen Pjanic, Robin Amaize, Bjarne Kraushaar, Tim Uhlemann… die Liste könnte um einige Namen weitergeführt werden. Alles Jungs aus Mittelhessen, die den Sprung zum gestanden Profi-Basketballer auf hohem und höchstem deutschen Niveau geschafft haben. Blöd nur, dass diese Liste bis auf Weiteres nach dem zweiten Bundesliga-Abstieg der Vereinsgeschichte in die Ablage V für Verschiedenes im Aktenschrank der Geschäftsstelle einsortiert wurde.
Deutsche Spieler mit Entwicklungspotenzial und zumindest mittelfristiger Perspektive an der Lahn sind seither Fehlanzeige. Den ebenfalls talentierten, aber mit genauso wenig Spielzeit ausgestatteten Till Heyne wird es der Vereinsseite nach wohl zu einem anderen Basketballstandort verschlagen.
Der Markt der entwicklungsfähigen deutschen Spieler gestaltet sich zunehmend schwieriger. Einerseits ist dabei die Entwicklung der US-Colleges zu erwähnen, der wir einen eigenen Bericht widmen könnten; alleine ob des Umfangs, Komplexität und der weitreichenden Folgen in der Basketballwelt durch diese Thematik. Andererseits ist die Perspektive in anderen deutschen Hallen für junge Talente einfach lukrativer. Viele BBL-Teams (und mit dieser Riege vergleichen sich viele in der Osthalle nach wie vor) unterhalten einen eigenen Unterbau oder zumindest eine Kooperation in der Pro B. Vechta wurde in den letzten Jahren durch den intensiven Austausch zwischen BBL und Pro A-Team zur wahren Talentschmiede.
Gießen wirkt in diesem Vergleich wie ein frisch geschiedener Boomer, der im Szeneclub junge Damen für sich begeistern möchte. Sicherlich gewillt und mit großen Erfolgen in der Vergangenheit; jedoch lichtet sich die Haarpracht und die Moves sind größtenteils eingerostet. Zu groß ist einfach der Höhenunterschied zwischen 2. Bundesliga und den Regionalligen, um ambitionierte Korbjäger an das Profigeschäft heranzuführen. Trainingsbedingungen, professionelle Strukturen, moderne Spielstätten, Aussichten auf langfristigen Erfolg auf höchstem Niveau… Wer das sucht, wird in Gießen aktuell leider kaum fündig, so ehrlich muss man sein.

Foto: Thore Bischoff
Mit Kai Müsse startet man nun ein Investment. Das kostet nicht nur Geld und einen Kaderplatz, sondern auch Spielzeit. Ohne eine nennenswerte Anzahl an Minuten in relevanten Spielphasen wird sich das Lob aus dem Umfeld des Altmeisters weiterhin auf die benannten Vorschusslorbeeren beschränken. Diese Minuten habe ich bereits in der aktuellen Spielzeit vermisst. Natürlich hat der gebürtige Dillenburger noch nicht das Niveau, um erfahrenen Hasen wie Robin Christen oder Maik Zirbes in einer Playoffserie gegenüberzustehen. Aber gab es in der zurückliegenden Runde in den 1.720 Spielminuten (ohne Overtimes, dafür aber mit Pokal und Playoffs gerechnet) wirklich nur 13, in denen es angebracht war, den Jungspund einzuwechseln? Das entspricht 0,76% der Gesamtspielzeit.
Der Ansatz ist sehr theoretisch, das gebe ich zu. Aber ist der direkte Vergleich in Spielen gegen Teams wie Koblenz, Artland Dragons oder die Nürnberg Falcons so entscheidend, dass wir in solchen Partien nicht auch zum Beispiel im zweiten oder dritten Viertel einige Minuten für unsere Talente finden? Diese Denkweise wird sich nun ändern müssen und ich gehe davon aus, dass das auch dem Trainerteam bewusst ist.
Es bleibt abzuwarten, wie sich die blonde Grinsebacke im harten Profialltag etablieren wird. Wir sollten ihm Zeit und die nötige Unterstützung geben. Junge Spieler machen Fehler und müssen diese auch machen dürfen. Das Gießener Publikum ist eines mit viel Basketballsachverstand und eines, das Fehler immer verzeiht, wenn ein Spieler die richtige Einstellung auf das Parkett bringt.
Wir wünschen dem lokalen Hoffnungsträger Geduld und die nötige Ausdauer. Und dass wir in zwei bis drei Jahren auch einige Jerseys mit seinem Flock auf den Tribünen der Osthalle antreffen.
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